Familie Deußing, Große Fleischergasse 14b in Leipzig

Der Vater Friedrich Wilhelm Deußing, geboren am 15. März 1888 in Oberweimar, befand sich seit 1926 dauerhaft in Leipzig, wo er sich zunächst als Händler, später als Schleifer verdingte. Seit Ende des Jahres 1931 wohnte er zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Margarete Martha, geb. Braun, die ursprünglich aus Stettin stammte, sowie den sieben Kindern in einer Wohnung in der Großen Fleischergasse 14 B.

Bekannt sind Wilhelm Berthold Alex, Geburtsdatum und -ort unbekannt. Gerhard Rudolf, von seiner Familie und Freunden Chaplin genannt, wurde am 7. März 1922 in Leipzig geboren. Da zunächst eine falsche Mutter angegeben worden war, wurde er anfänglich mit dem Nachnamen Braun-Deußing in den Akten geführt. Frieda Loni, geboren am 8. Februar 1924 in Leipzig, und Max Heinz, geboren am 27. Juni 1925, vermutlich in Leipzig.

Ins Visier der Behörden geriet die Familie bereits 1934, als im März der Leiter des Instituts für Rasse und Völkerkunde an der Universität Leipzig, Prof. Otto Reche, eine Anfrage an den Polizeipräsidenten stellte, um „die in Deutschland vorhandenen Bastarde mit fremden Rassen […] in einer Kartei zu sammeln“. Seine Anfrage an den Polizeipräsidenten wurde an das Bezirkskirchenamt und nachfolgend an die einzelnen Kirchgemeinden weitergegeben. Es antworteten lediglich sechs Leipziger Kirchgemeinden auf die Anfrage zu „Bastarden“. Familie Deußing war Teil der Thomaskirchgemeinde und wurde 1934 vom Pfarramt der Thomaskirche umfassend gemeldet und als [Z*] angegeben.

In den Folgejahren wurde die sog. „Bastard-Kartei“ Reches durch Meldungen des Polizeipräsidiums noch um weitere Familien erweitert. Neben Reches Kartei gab es ab 1937 eine auf Kreisebene durch das Rassenpolitische Amt angeordnete „Fremdrassigenerhebung“, in die Dr. Werner Brückner, Mitarbeiter des Instituts für Rasse und Völkerkunde, involviert war. Diese Erhebung enthält u.a. die Abschrift eines sechsseitigen Verzeichnisses aus dem Institut für Rasse und Völkerkunde über die „im Stadtgebiet wohnenden [Z*] nach dem Stande vom 15. Juni 1936“ mit den Namen von rund 30 Familien.

Im März des Jahres 1939 wurde von Seiten des Amtes für Volksgesundheit Leipzig beim Rassenpolitischen Amt eine Anfrage mit dem Betreff „[Z*]-Kartei“ gestellt, ob Familie Deußing in ebendieser verzeichnet sei. Diese Anfrage beantwortete Brückner einige Monate später dahingehend, dass die Familie „nicht geführt [werde], da nach der alten gesetzl. Bestimmung nur rein-rassige [Z*] geführt wurden“. Dies änderte sich durch den Runderlass Heinrich Himmlers vom Dezember 1938, der die „Regelung der [Z*]frage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ anordnete und die Rassenhygienische Forschungsstelle mit der Anfertigung von Gutachten beauftragte.

Brückner bemerkt in seinem Schreiben, dass „der Verdacht besteht, daß die Familie Deussing zur Gruppe der „[Z*]-Mischlinge“ gehört“ und deshalb „auf dem Dienstwege ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden“ sei. Die Familie sei als „[Z*]-verdächtig anzusehen und von irgendwelchen Förderungn [sic] auszuschließen“. Dieses Ermittlungsverfahren führte dazu, dass die Rassenhygienische Forschungsstelle im Jahr 1942 festlegte, dass der Vater Friedrich Wilhelm Deußing „als Nicht[Z*] zu gelten“ habe. Das zuvor notierte „[Z*]“ auf der Meldekartei wurde durchgestrichen.

Dahingegen wurden seine Kinder als „[Z*]mischlinge“ markiert, was sowohl der Kriminalpolizei als auch sonstigen Behörden gemeldet und in den Akten vermerkt wurde. So steht in der Meldekartei des zweitgeborenen Gerhard Rudolf: „Laut Mitteilung der R.F. [Rassenhygienischen Forschungsstelle] […] im Reichsministerium des Innern vom 7.8.41 gilt [er] als [Z*]-Mischling. D. ist Reichsdeutscher durch Abstammung.“

Gerhard Rudolf treffen die Repression der Behörden besonders: Im Jahr 1939 wurde er für drei Tage im Jugendgefängnis inhaftiert und dem Jugendgericht vorgeführt. Am 6. Februar 1941, wenige Tage bevor das Oberkommando der Wehrmacht den Ausschluss aller sogenannter [Z*] und [Z*]mischlinge aus dem Wehrdienst anordnete, hatte er den Wehrdienst in Gehlenburg (heute Biała Piska, Polen) in Ostpreußen anzutreten. Aus diesem wurde er am 27. März 1942 entlassen und kehrte zu seinen Eltern zurück. Am 13. April 1942 wurde er für eine Nacht inhaftiert sowie am 27. Februar 1943 erneut verhaftet und im Polizeigefängnis in der Riebeckstraße 63 in polizeiliche Vorbeugehaft genommen.

Laut Unterlagen war Kriminal-Oberassistent Frenzel für seine Verhaftung verantwortlich, der eine starke Aversion gegenüber Sinti und Roma hegte und auch in anderen Fällen gegen diese vorging. Vom Polizeigefängnis aus wurde Gerhard Rudolf am 1. März 1943 mit dem letzten Transport Leipziger Sinti und Roma ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, wo er die Häftlingsnummer Z99 erhielt. Am 12. April 1943 wurde er ins Stammlager Auschwitz überstellt, im Mai 1943 sein Vermögen beschlagnahmt und am 20. Januar 1944 nach Birkenau rückverlegt. Eine kurze Notiz auf seiner Meldekarte hält fest, dass Gerhard Rudolf am 3. März 1944 im KZ Auschwitz gestorben ist.

Über Frieda Loni ist aus Mangel an Dokumenten weitaus weniger bekannt. Aufgrund der Häftlingsnummer Z121 lässt sich rekonstruieren, dass sie mit dem selben Transport nach Auschwitz kam wie ihr Bruder. Von dort wurde sie mit einem Transport von 161 Personen am 24. Mai 1944 nach Ravensbrück verlegt, wo sie als Häftling mit der Nummer 40268 geführt wurde. Hier verliert sich ihre Spur.

Die übrigen neun Familienmitglieder überlebten die Verfolgung. Der älteste Sohn Wilhelm Berthold Alex war jedoch 1944 zwangssterilisiert worden. Gerhard Rudolf und Frieda Loni wurden laut Aussagen von Angehörigen nach Auschwitz deportiert, weil sie sich einer Zwangssterilisation widersetzt hatten.

Max Heinz lebte nach dem Krieg mit seiner Frau Maria, geb. Richter, in Leipzig. Ein Großteil ihrer Familie war am 1. März 1943 von ihrem Wohnort Neiße (heute Nysa, Polen) ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden und wie Gerhard Rudolf und Frieda Loni im Block BIIe inhaftiert. Maria hatte die Häftlingsnummer Z7. Sie verlor im Vernichtungslager nicht nur ihren Vater Anton Richter, geboren am 10. September 1896 in Gleiwitz (heute Gliwice, Polen), sondern auch vier ihrer Brüder, davon der jüngste geboren am 20. April 1940 (Häftlingsnummern Z10, Z11, Z12, Z15 und Z16). Sie war mit ihren beiden Kindern nach Auschwitz gekommen, dem erst ein Jahr alten Herbert und der vierjährigen Hildegard,. Ihre Kinder starben nach zwei Monaten im Mai 1943 kurz nacheinander.

Von Auschwitz wurde Maria in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort erhielt sie am 3. August 1944 die Häftlingsnummer 48347. Am 1. September 1944 wurde sie weiter ins Konzentrationslager Flossenbürg/Außenkommando Graslitz zur Rüstungsproduktion überstellt (Häftlingsnummer 51639). Maria überlebte und wurde im April 1945 auf dem Transport in Karlsbad (heute Karlový Vary, Tschechien) befreit.

Aus der Ehe mit Max Heinz Deußing gingen zwei Kinder hervor, wobei der Sohn, Peter Deußing, 1949 in Leipzig geboren und in der Thomaskirche getauft wurde. Der Familie war das Agieren der Kirchgemeinde zu NS-Zeiten nicht bekannt. 1951 zog die Familie nach Holzminden (Niedersachsen). Bis 1953 verließ die gesamte Familie Deußing Leipzig, um sich in Nord- und Westdeutschland niederzulassen, nachdem einige Familienmitglieder auch nach Kriegsende mehrmalig inhaftiert wurden.

Seit 1954 rang Maria Deußing in langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren um eine Entschädigung. Aufgrund zahlreicher Folgeerscheinungen von Krankheiten, die sie sich im Konzentrationslager zugezogen hatte, konnte Maria nicht mehr arbeiten und war auf Sozialhilfe sowie auf dauerhafte ärztliche Behandlungen angewiesen.

Die Gerichtsverfahren, die, wenn überhaupt, nur eine geringe Entschädigungszahlung nach sich zogen, führten erst durch das Wirken des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma im Jahr 1999, also mehr als fünfzig Jahre nach der Befreiung, zur Zahlung einer monatlichen Rente sowie der einmaligen Zahlung einer höheren Abfindung. Maria starb knapp zwei Jahre nachdem ihr diese Entschädigung zuerkannt wurde.

Zahlreiche Schicksale der bis zu 400 Sinti und Roma, die zwischen 1933 und 1945 in Leipzig wohnten und von denen ein Großteil den NS nicht überlebte, sind nach wie vor nicht beleuchtet, geschweige denn öffentlich gemacht worden. Die Zeitzeug*innen sind meist bereits verstorben und so bleibt es eine Aufgabe der Nachgeborenen, die Verflechtungen der Menschen mit der Geschichte offenzulegen.

Peter und Christa Deußing, die Kinder von Maria und Max Heinz, waren bei der Stolpersteinverlegung für ihre Tante Frieda Loni und ihren Onkel Gerhard Rudolf am 1. Oktober 2015 in der Großen Fleischergasse im Zentrum Leipzigs anwesend. Für sie ist es ein wichtiges Zeichen, dass an die Verfolgung und Ermordung ihres Onkels sowie ihrer Tante öffentlich erinnert wird und dass das Schicksal der beiden Geschwister geklärt ist. „Wir sind mit unserer ganzen Familie eng verbunden und Frieda und Gerhard waren diejenigen, die wir nie kennengelernt haben. Dass wir sie heute hier symbolisch beerdigen können, berührt mich zutiefst. Für mich war das, als hätten wir sie selber zu Grabe getragen,“ sagte Christa Deußing nach der Verlegung.

Mit stilistischen Änderungen, übernommen von Kristina Wermes „Das Schicksal der Leipziger Sintifamilie Deußing“ (https://www.weiterdenken.de/sites/default/files/vk_13_kristina_wermes_-_das_schicksal_der_leipziger_sintifamilie_deussing.pdf)