Familie Blum, Laubegaster Ufer 22 in Dresden-Laubegast

Willy Blum war das achte von später insgesamt zehn Kindern der Sinti Aloys und Toni (Antonie) Blum (geb. Richter). Die Familie verdiente ihren Lebensunterhalt mit einem Marionettentheater. Sie reiste durch Mitteldeutschland und führte in Dörfern und Städten Theaterstücke und Musik auf. Trotz der wirtschaftlich schwierigen Zeiten konnten Aloys und Toni Blum ihren Familienbetrieb am Laufen halten. Selbst auf dem Höhepunkt der Inflation Ende der 1920er-Jahre besuchten die Menschen ihre Vorstellungen, um für Augenblicke dem harten Alltag zu entkommen.

Über das Geburtsdatum von Willy Blum bestehen widersprüchliche Angaben: Die Geburtsurkunde dokumentiert den 13. Juli 1928, die erhaltenen Lagerdokumente aus Buchenwald den 26. Juni und die Mutter nannte in Nachkriegsunterlagen den 24. Juni. Sicher ist hingegen sein Geburtsort: der kleine Ort Rübeland im Harz, in dem die Familie mit ihrem Theater gastierte. „Masengro“ (deutsch Fleischer) wurde sein Spitzname in der Sprache der Sinti, weil der kleine Junge so kräftig gebaut war.

Bereits kurz nach der Geburt reiste die Familie weiter. Ab 1936 waren die Blums unter der Adresse Laubegaster Ufer 22 in Dresden gemeldet. 1938 zogen sie nach Hoyerswerda um. Willy Blum wurde höchstwahrscheinlich im Jahr 1934 in Dresden eingeschult. In Hoyerswerda besuchten er und sein jüngerer Bruder Rudolf bis März 1943 die evangelische Knabenschule. Ihre Schwester Dora war Schülerin der dortigen Volksschule. Am Unterricht nahmen die Geschwister jedoch meistens nur im Winter teil, da sie im Sommer mit dem Marionettentheater der Familie auf Tournee gingen. Dann besuchten die Kinder die Schulen an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort.

Die Machterlangung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 hatte auch für Aloys und Toni Blum und ihre Kinder weitreichende Auswirkungen. Als Sinti wurden sie zunehmend ausgegrenzt, angefeindet und schikaniert. Die Familie Blum musste die Reisen mit ihrem Marionettentheater einstellen, konnte es in Hoyerswerda jedoch bis Februar 1942 weiter betreiben. Angesichts der fehlenden Einnahmen begann Toni Blum einen Handel mit Spitzen und Spitzendecken. Zusammen mit den Theatereinnahmen konnte sich die Familie über Wasser halten.

Im Jahr 1942 trafen die rassistischen und menschenverachtenden Maßnahmen des NS-Regimes die Familie Blum mit aller Härte. Aloys Blum wurde endgültig der Betrieb des Theaters verboten. Die gesamte Familie wurde in Hoyerswerda festgesetzt und durfte bei Androhung von KZ-Haft den Ort nicht mehr verlassen. Aloys Blum musste sich zudem jeden Tag bei der Polizei melden.

Um seine Familie weiterhin ernähren zu können, war er gezwungen, einen der beiden Wohnwagen sowie die Zugmaschine weit unter Wert zu verkaufen. Willys Schwester Dora, zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, wurde von der Volksschule verwiesen. Toni Blum schaffte es jedoch, sie daraufhin an der Mittelschule anzumelden. Dort wurde Dora, trotz des seit 1941 geltenden Schulverbots für Sinti, aufgenommen. Willy und Rudolf konnten nur dank ihres Schuldirektors, der sich ebenfalls nicht an dieses Verbot hielt, weiter die Schule besuchen.

Um den Drangsalierungen durch die Nationalsozialisten zu entgehen, wagte die Familie schließlich eine Flucht. Gemeinsam mit anderen Sinti wollten die Blums sich nach Jugoslawien durchschlagen. Der Versuch scheiterte durch einen defekten Autoreifen: Die Polizei griff die Familie auf. Die Eltern wurden geschlagen und die ganze Familie zurück nach Hoyerswerda gebracht.

Am 8. Mai 1942 verhaftete die Polizei Aloys Blum. Er wurde zunächst in Hoyerswerda (im Untersuchungsgefängnis im Schloss) und ab dem 1. Juli 1942 im Polizeigefängnis Cottbus inhaftiert. Von dort aus brachte man ihn mit einem Sammeltransport ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort wurde er am 5. Juli 1942 als Häftling mit der Nummer 45.020 registriert.

Willy Blum blieb zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern in Hoyerswerda zurück. Die Familie musste jedoch an den Stadtrand in das Elendsviertel Am Wasserturm umziehen, wo ihnen eine Baracke zugewiesen wurde. Dort herrschten erbärmliche Zustände. Aufgrund des Auschwitz-Erlasses wurden am 3. oder 4. März 1943, das genaue Datum ist nicht bekannt, die verbliebenen Mitglieder der Familie Blum in Hoyerswerda verhaftet. Die Polizei umstellte frühmorgens ihre Baracke und zwang Toni Blum und ihre Kinder, nur das Notwendigste einzupacken und mitzukommen. Nur Willys Schwester Ella gelang es, der Deportation nach Auschwitz zu entgehen, indem sie sich bei einem Onkel versteckte.

Nach einem kurzen Aufenthalt im Polizeigefängnis von Hoyerswerda wurden Willy und seine Familie mit dem Zug nach Breslau (heute Wrocław, Polen) in ein Sammelgefängnis gebracht. Von dort aus transportierte man sie weiter nach Auschwitz-Birkenau, wo die Familie vermutlich am 5. März 1943 eintraf. Aus dem Schüler Willy Blum wurde dort die Nummer Z-734.

Toni Blum und ihre Kinder kamen in das „[Z*]familienlager“. Nach einiger Zeit trafen sie dort auch den Vater Aloys Blum wieder, der aus dem Stammlager dorthin gebracht worden war. Die Familie fand unter schrecklichen Bedingungen wieder zueinander und musste nun gemeinsam versuchen, den Lageralltag in Auschwitz zu überleben.

Im Frühjahr 1944 begannen Abtransporte von arbeitsfähigen Häftlingen in andere Konzentrationslager. Die Mitglieder der Familie Blum wurden alle auf Transportlisten gesetzt und entkamen, ohne es zu wissen, der Ermordung aller noch anwesenden Sinti und Roma in Auschwitz am 2. August 1944. Dies gelang ihnen unter anderem durch die Hilfe des Lagerschreibers Zbigniew Rybka, mit dem Elli Blum befreundet war. Er sorgte auch dafür, dass der neunjährige Rudolf und die vierzehnjährige Dora, die sehr krank und schwach war, ebenfalls aus Auschwitz abtransportiert wurden. Die Familienmitglieder entkamen zwar der „Hölle von Auschwitz“, wurden aber voneinander getrennt. Während Willy mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Rudolf nach Buchenwald deportiert wurde, gelangten seine Mutter und die anderen Geschwister in das KZ Ravensbrück.

Am 3. August 1944 kamen Willy Blum, sein Vater und sein Bruder Rudolf in Buchenwald an. Dort wurden sie zunächst im sogenannten Kleinen Lager untergebracht. Dies war ein Bereich am Nordrand des Lagers, der anfangs als Quarantäne- und Durchgangsstation für neu angekommene Häftlinge genutzt wurde, sich später aber zu einem Abschiebe- und Sterbelager für kranke und fast verhungerte Insassen entwickelte, die nicht mehr „arbeitsfähig“ waren.

Am 7. August 1944 wurden die beiden Jungen von ihrem Vater getrennt. Die SS brachte Aloys Blum nach Nordhausen in das KZ Mittelbau-Dora, nicht weit von Willys Geburtsort Rübeland entfernt. Willy und Rudolf Blum mussten sich fortan allein in Buchenwald durchschlagen.

Nach einigen Wochen kamen die beiden Brüder in Block 58, später in Block 47. Dort befanden sich auch die meisten anderen Kinder und Jugendlichen, die mit ihnen zusammen von Auschwitz nach Buchenwald deportiert worden waren. Insgesamt blieben etwa 300 Kinder und Jugendliche in Buchenwald zurück, während ihre Väter und die anderen erwachsenen Verwandten in verschiedene Außenlager weitertransportiert wurden. Einige der Jugendlichen mussten im Arbeitskommando Steinbruch Zwangsarbeit leisten, obwohl sie stark mangelernährt und geschwächt waren.

Willy wurde jedoch nicht für diese schwere Arbeit herangezogen. Er musste sich laut Aussage eines Mithäftlings, der mit Willy und Rudolf in einer Baracke untergebracht war, um den Bären im Zoo kümmern, den die SS-Leute in Buchenwald angelegt hatten.

Am 23. September 1944 wurde durch eine Transportliste mit 200 Kindern und Jugendlichen die Trennung der beiden Brüder Willy und Rudolf veranlasst. Die meisten von ihnen stammten aus Block 47, in dem auch Willy und Rudolf lebten. Die Kinder sollten nach Auschwitz deportiert werden. Während der neunjährige Rudolf Blum auf der Liste stand, sollte sein sechzehnjähriger Bruder Willy in Buchenwald verbleiben.

Als vor dem Abtransport die Namen auf der Liste vorgelesen und der Transport zusammengestellt wurde, rief Rudolf so lange nach seinem großen Bruder, bis dieser bei der SS darum bat, ihn nach Auschwitz begleiten zu dürfen. Dafür wurde der Name des dreijährigen jüdischen Jungen Stefan Jerzy Zweig von der Liste gestrichen und durch den von Willy Blum ersetzt. Stefan Zweig konnte in Buchenwald bleiben und überlebte. Seine Geschichte wurde später durch den Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz und dessen Verfilmung in der DDR berühmt. Das Schicksal von Willy Blum, das so eng mit dem von Stefan Zweig verknüpft war, geriet hingegen in Vergessenheit.

„Nach Auschwitz ging auch ein Transport, der die ganze Menschenfeindlichkeit der SS offenbarte. Es waren 200 Kinder, Juden und [Z*]. […] Sie standen unter Bewachung auf der Verladerampe. Beim Einwaggonieren riss sich eines der Kinder, vielleicht 10 bis 12 Jahre alt, los und stürzte auf mich zu. Es klammerte sich an mich und bat: ‚Onkel behalt mich hier, ich will nicht nach Auschwitz.‘ Dieser Angstschrei eines Kindes hallt mir noch heute in den Ohren. Der Junge wusste, was ihm in Auschwitz bevorstand, und ich wusste es leider auch. Aber helfen konnte ich ihm nicht. Das war das Furchtbarste.“ (Harald Dilcher, ehem. Buchenwald-Häftling, in: Buchenwald 1937-1945)

Als Willy Blum sich freiwillig meldete, um seinen Bruder zu begleiten, ahnte er vermutlich, was sie in Auschwitz erwartete. Dennoch entschied er sich, seinen kleinen Bruder nicht alleine zu lassen. Der Transport mit den 200 Kindern und Jugendlichen aus Buchenwald traf am 26. September 1944 in Auschwitz-Birkenau ein. Dort verlieren sich ihre Spuren. Aufzeichnungen darüber, was mit den Kindern und Jugendlichen geschah, existieren nicht. Es ist anzunehmen, dass fast alle von ihnen direkt nach ihrer Ankunft in Auschwitz in den Gaskammern ermordet wurden. Vermutlich überlebten zwei der Jungen aus dem Transport aus ungeklärten Umständen.

Nach der Befreiung im Mai 1945 kehrten die überlebenden Mitglieder der Familie Blum nach und nach an ihren letzten Wohnort Hoyerswerda zurück. So hatten sie es vor ihrer Trennung und der Deportation in verschiedene Konzentrationslager verabredet. Alle fanden sich wieder, nur Willy und Rudolf fehlten. Niemand wusste etwas über ihren Verbleib. Aloys Blum und weitere Mitglieder der Familie fuhren daraufhin im Herbst 1945 nach Berlin, um etwas über das Schicksal von Willy und Rudolf herauszufinden. Doch niemand konnte ihnen weiterhelfen.

Erst etwa ein Jahr später erfuhr Willys Schwester Elli von einem Bremer Sinto, der mit den beiden Jungen in einer Baracke gelebt hatte, von dem Transport nach Auschwitz. Auch Aloys Blum erhielt von einem ehemaligen Mithäftling ähnliche Informationen über das Schicksal seiner beiden Söhne. In den 1950er-Jahren mussten Aloys und Toni Blum schweren Herzens ihre beiden Söhne Willy und Rudolf für tot erklären lassen.

Seit dem Jahr 2018 erinnert das Buch „Das Kind auf der Liste“ der Publizistin Annette Leo an das Schicksal von Willy Blum und die Verfolgung seiner Familie. Am einstigen Verlauf der Bahngleise in das Lager Buchenwald tragen 200 Steine die Namen der nach Auschwitz deportierten Kinder und Jugendlichen. In der Ausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg erinnern Karten mit Namen und Geburtsdaten an sie. Geschrieben und gemalt wurden sie von Schüler*innen des Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Sandhausen. Auch wenn es nicht mehr möglich ist, die Todesumstände von Willy und Rudolf Blum aufzuklären, so ist den Nationalsozialist*innen eines nicht gelungen: die Existenz der beiden Jungen und die Erinnerung an sie spurlos auszulöschen.

Mit stilistischen Änderungen, übernommen vom Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.