Roma und Sinti in Sachsen

Vom Mittelalter bis zum Nationalsozialismus

Seit dem Mittelalter leben Rom*nja und Sinti*zze in Europa, Deutschland und Sachsen. Ihre Geschichte ist geprägt von Abwertungen, Ressentiments und Ausgrenzungserfahrungen. Dabei haben die auch heute noch gegen Sinti*zze und Rom*nja gerichteten Vorurteile und diskriminierenden Maßnahmen eine lange Tradition.

von Dr. Alexander Rode.

Rom*nja und Sinti*zze leben seit mindestens 600 Jahren in Europa. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass Sinti*zze und Romn*ja aus dem Gebiet des heutigen Indiens auswanderten. Die Migrationsrouten führten Rom*nja und Sinti*zze durch Persien, Kleinasien (v.a. die heutige Türkei), den Kaukasus (v.a. das heutige Armenien) über Griechenland und den Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa. Der Grund dafür war nicht ein angeblicher Wandertrieb, der ihnen teilweise bis heute unterstellt wird, sondern Kriege, Verfolgung, Vertreibung und wirtschaftliche Not. Die Geschichte der Rom*nja und Sinti*zze in Europa ist bewegt. Kurze Phasen der Toleranz, wie im Hochmittelalter oder die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, wechselten sich mit langen Phasen der Verfolgung und sozialen Ausgrenzung ab. Die Geschichte der Rom*nja und Sinti*zze, die seit Jahrhunderten in Deutschland leben und beheimatet sind, erzählt eine kontinuierliche Erfahrung von Stigmatisierung und Exklusion. Von der Neuzeit über die Zeit des Nationalsozialismus, die Jahre der deutsch-deutschen Teilung bis in die Gegenwart wurden Rom*nja und Sinti*zze aufgrund ihrer angeblichen Andersartigkeit benachteiligt, segregiert und verfolgt. Ihre gesellschaftlichen Leistungen und Dienste blieben größtenteils ungewürdigt.

Das Mittelalter: Ausgrenzung durch erzwungene Mobilität

Die erste urkundliche Erwähnung von Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland stammt von 1407 aus einer Stadtchronik in Hildesheim. Sie wurden dort als Gäste willkommen geheißen. Auch andernorts waren Rom*nja und Sinti*zze als Handwerker:innen anerkannt und gerne als Musikschaffende und Schauspielende an europäischen Höfen gesehen. Nicht selten waren sie mit Empfehlungsschreiben und Reisepapieren von den Autoritäten ausgestattet und sie standen unter dem Schutz der deutschen Königen. Diese kurze Phase der Toleranz endete jedoch schnell. Mittelalterliche Darstellungen schrieben den Einwandernden ein „orientalisches“ Erscheinungsbild zu und betonten, dass sie über eine eigene Kultur und eine eigene Sprache – das Romanes – verfügten. Doch in der europäischen Welt des Mittelalters war das Unbekannte grundsätzlich verdächtig und fremd: Die Beschreibungen der Rom*nja und Sinti*zze waren von Ängsten, Missverständnissen und Vorurteilen geprägt. Für das Jahr 1415 berichtet etwa die Meißner Chronik, dass „die Zigani, ein umherirrende[r] und schädlicher[r] Menschenschlag, wegen ihres Stehlens, ihrer Hehlerei und ihres liederlichen Lebenswandels“ vertrieben worden seien.1Zit. nach Kelch, Christian Gerhard (2018): Dr. Hermann Arnold und seine „[Z*]“. Zur Geschichte der „Grundlagenforschung“ gegen Sinti und Roma in Deutschland unter Berücksichtigung der Genese des Antiziganismusbegriffs (Diss.). Nürnberg, S. 93.

Die politische Gleichstellung mit anderen Randgruppen

Gegen Ende des 15. Jahrhunderts, als sich die spätmittelalterliche Gesellschaft an der Schwelle zur frühen Neuzeit befand, wurden Rom*nja und Sinti*zze zunehmend ausgegrenzt und verfolgt. In dieser Zeit stellten Autoritäten Rom*nja und Sinti*zze mit „Gaunern und Vagabunden“ gleich. Der Freiburger Reichstag erklärte „[Z*]“ 2Der Begriff des „[Z*]s“ ist eine Fremdbezeichnung, die aufgrund seiner diskriminierenden Bedeutung von vielen Sinti*zze und Romn*ja abgelehnt wird. Er wird hier ausdrücklich nicht als Bezeichnung einer Ethnie, sondern als historischer Begriff verwendet, ohne die mit ihm verbundenen, diskriminierenden und rassistischen Bedeutungen zu übernehmen. Zudem wird der Begriff nur dort Verwendung finden, wo er in den originalen Quellen erscheint und eine Wiedergabe in wörtlicher Zitation naheliegt. 1498 für „vogelfrei“ 3Mit dem Begriff der „Vogelfreiheit“ wurden Personen besetzt, über die das Urteil der Ächtung verhängt wurde. Betroffene bekamen keine Behausung gewährt und nach ihrem Tode wurde der Leichnam nicht bestattet, sondern den Vögeln und Wölfen zum Fraß überlassen.. Andere Quellen beschuldigten sie, die Pest und andere Plagen zu verbreiten oder Spionage für die Osmanen zu betreiben. Ein im Volk weit verbreiteter Aberglauben war es, dass Rom*nja und Sinti*zze Kinder entführen und Kannibalismus betreiben würden oder, dass sie über magische Fähigkeiten verfügten. Vorurteile gaben Anlass zur alltäglichen Ausgrenzung, die den Betroffenen das Leben kosten konnte. Kurfürst August I. von Sachsen etwa erlaubte es 1556, Rom*nja und Sinti*zze zu ertränken. Als Begründung genügte die Vorstellung, dass sie „böse Künste“ betreiben würden. 4Solms, Wilhelm (2008): [Z*]bilder. Ein dunkles Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Von der frühen Neuzeit bis zur Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 27. Auch in allen anderen deutschen Gebieten wurden Rom*nja und Sinti*zze für „vogelfrei“ erklärt – d.h. sie bewegten sich faktisch (für die kommenden 300 Jahre) in einem für sie rechtsfreien Raum. Die „Vogelfreiheit“ lieferte die Begründung für Pogrome 5Pogrome bezeichnen gewalttätige Angriffe auf Leben und Besitz von religiösen oder ethnischen Minderheiten. und „[Z*]jagden“

Aber wie ist diese schnelle Ausgrenzung und Verfolgung zu erklären? Eine Antwort auf die Frage nach den Gründen liegt nicht in der vorgeblichen Fremd- oder Andersartigkeit der Sinti*zze und Romn*ja, sondern in der sozialen Ordnung des Mittelalters. Handwerkszünfte wachten über das Stadtrecht und machten das Niederlassen von sozialen Außenseiter*innen – zu denen Rom*nja und Sinti*zze, jüdische Personen, aber auch Bettler*innen und Vagabund*innen gezählt wurden – unmöglich. Rom*nja und Sinti*zze blieben Fremde, weil ihnen ein Ankommen in der Gesellschaft verwehrt wurde. Das mündete für Rom*nja und Sinti*zze insofern in einem prekären Kreislauf, als dass „die freiwillige Niederlassung in den Städten ebenso beargwöhnt [wurde], wie das unerwünschte Umherziehen“. 6Bogdal, Klaus-Michael (2011): Europa erfindet die [Z*]. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Berlin: Suhrkamp, S. 338. Das „Fahren“ – jene angeblich charakteristische Eigenschaft der Rom*nja und Sinti*zze – war so von Anfang an die Folge alltäglicher Ausgrenzung und Verfolgung. Auf der Suche nach Arbeit und einer Möglichkeit zur Niederlassung waren Rom*nja und Sinti*zze zum Umherziehen gezwungen. Ohne feste Wohn- und Erwerbsmöglichkeiten wurden sie immer weiter an den gesellschaftlichen Rand und in Armut getrieben. Ihre Armut rief weiteres Misstrauen hervor und brachte Rom*nja und Sinti*zze immer häufiger in Konflikt mit den Autoritäten.

Das 18. Jahrhundert: Zwangsassimilation und sozialer Rassismus

Zwischen 1500 und 1800 wurden in Deutschland 148 sogenannte „[Z*]edikte“ erlassen. Diese zielten auf die Vertreibung der Sinti*zze und Romn*ja und entrechteten und kriminalisierten sie völlig. Beispielsweise erteilte der Kurfürst von Sachsen August II. seinen Behörden im Jahr 1711 die Befugnis, die „[Z*]“ niederzuschießen, falls sie sich im Falle einer Verhaftung widersetzten. Der Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg ermächtigte im Jahr 1726 seine Milizen „Bettler, Vaganten, [Z*] und alles andere verdächtige Gesindel“ gezielt zu suchen und gewaltsam aus seinem Territorium zu vertreiben.

Erzieherische Maßnahmen der Mehrheitsgesellschaft

Gewalttätige Hetze und Vertreibung blieben bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts alltäglich, wurden im Verlauf des Jahrhunderts aber seltener. Das bedeutete jedoch nicht, dass sich die soziale und rechtliche Stellung der Rom*nja und Sinti*zze deswegen verbesserte. Die Diskriminierung zeigte sich fortan in anderer Gestalt: Statt offener Gewalt und Verfolgung stand nun eine Politik der Zwangsassimilation und Sesshaftmachung im Mittelpunkt. 7Unter Zwangsassimilation ist der unfreiwillige Prozess der erzwungenen Integration von religiösen, kulturellen oder ethnischen Minderheiten zu verstehen. Solche Minderheiten werden gezwungen, die Sprache, Identität, Normen und Traditionen der vorherrschenden Kultur zu übernehmen. Die Politik der Zwangsassimilation zielt auf die Anpassung einer sozialen Minderheiten an die Mehrheit. Dabei handelte es sich um Zwangsmaßnahmen, die auf den Verlust der „[Z*]ischen“ Lebensweise abzielten und bewirken sollten, dass Rom*nja und Sinti*zze sich mit der Mehrheitsbevölkerung verbinden. Sie sollten dadurch langfristig als Minderheit verschwinden. Absolutistische Herrschende verbaten Sinti*zze und Romn*ja Romanes zu sprechen und ihre Gewerbe (oft Handel-, Schmiede- oder Musikgewerbe) auszuüben, umherzuziehen und untereinander zu heiraten. Solche Maßnahmen sollten einen erzieherischen Einfluss auf Rom*nja und Sinti*zze ausüben. Diese Art der Bevölkerungspolitik und der (Zwangs-)Erziehung wurde durch die Behauptungen begründet, Rom*nja und Sinti*zze seien kulturell rückständig, ihrer ganzen Art nach primitiv oder auf einer kindlichen Entwicklungsstufe stehengeblieben. Diese negativen Zuschreibungen legitimierten umfassende Maßnahmen, um „dieses Volk zu bessern“ und zu „brauchbaren Bürgern“ zu erziehen. Dafür, so die Idee, könnten Rom*nja und Sinti*zze an bestimmten Orten angesiedelt werden, um sie so sesshaft zu machen. Die Maßnahmen sollten schließlich dazu führen, dass Rom*nja und Sinti*zze ihre eigene Kultur aufgaben, um die Eigenschaften der sesshaften Bevölkerung anzunehmen. Die Politik der Assimilation setzte allerdings einen Ort voraus, an dem Rom*nja und Sinti*zze sich dauerhaft niederlassen konnten: Der Gedanke der Sesshaftmachung war nur insofern konsensfähig, als „dass fast jede Gemeinde wie selbstverständlich davon ausging, nicht sie werde einer jener Orte sein, an denen sich die [Z*] niederzulassen hätten“. 8Zimmermann, Michael (1996): Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der [Z*]frage“. Hamburg: Christians, S. 53. So blieben Diskriminierungserfahrungen für Rom*nja und Sinti*zze alltäglich. Der Kreislauf aus Ankunft und Vertreibung wurde fortgesetzt und Rom*nja und Sinti*zze immer weiter in das soziale Abseits getrieben.

Die Erfindung des „wissenschaftlichen“ Rassismus

Die bis ins 18. Jahrhundert gegen Rom*nja und Sinti*zze gerichteten Maßnahmen waren durch zahlreiche Vorurteile und Abwertungen begründet. Rassistische Untertöne fehlten allerdings weitgehend. Das änderte sich mit dem Aufkommen des modernen Rassismus, in dem der Gedanke einer sozialen Gleichheit grundsätzlich ausgeschlossen ist. Der Kolonialismus und ein naturwissenschaftliches Denken beförderten die Vorstellung, dass alle Völker spezifische Eigenschaften besäßen. Auch Rom*nja und Sinti*zze – obwohl sie seit Jahrhunderten in Deutschland und Europa lebten – wurden wahlweise als „orientalisches Volk“, als „minderwertige Rasse“ oder als „primitive Wilde“ kategorisiert. Dabei war die Vorstellung grundlegend, dass Rom*nja und Sinti*zze dem europäischen „Kulturmenschen“ unterlegen wären und aufgrund ihrer angeblichen und unverbesserlichen „Rasse“-Eigenschaften – wie Faulheit, Unstetigkeit, einer antibürgerlichen Moral oder einem natürlichen Hang zum Diebstahl – unweigerlich in Konflikt mit der Bevölkerungsmehrheit geraten würden. Sämtliche dieser angeblichen Eigenschaften waren aber Folge der Ausgrenzungspolitik. Sämtliche dieser angeblichen Eigenschaften beruhten auf Vorurteilen, die sich zu dieser Zeit bereits als „Wissen“ über Rom*nja und Sinti*zze verbreitet hatten. Durch den modernen Rassismus wurden diese Vorurteile nun als „rassische“ oder genetische Eigenschaften eines „fremdländischen“ Volkes festgeschrieben und zu unveränderlichen Attributen „des [Z*]s“ deklariert.

Das 19. und das 20. Jahrhundert: Eugenischer Rassismus

In den sich entwickelnden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts verkörperten Rom*nja und Sinti*zze einen Widerspruch: Im Gegensatz zu den staatlichen Bestrebungen nach herrschaftlicher Geschlossenheit, ethnischer und kultureller Homogenität, Steuerung und Erfassung der Bevölkerung standen Binnenmigration, Minderheiten oder Personen ohne nationale Zugehörigkeit. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde völkisch gedacht. Die abwertende Figur „des [Z*]s“ als heimat- oder „vaterlandsloser Müßiggänger“ verkörperte das genaue Gegenteil. Es entsprach darüber hinaus der Idee des Nationalstaates im Inneren über einen geschlossenen Untertanenverband zu regieren und sich nach Außen durch feste Grenzen zu verschließen. Vor diesem Hintergrund ist auch die in den folgenden Jahren aufkommende Unterscheidung zwischen „ausländischen und inländischen [Z*]n“ zu verstehen. Während ausländische Rom*nja und Sinti*zze an den Grenzen des Deutschen Reichs abgewiesen bzw. aus dem Reichsgebiet abgeschoben werden konnten, existierte für inländische Rom*nja und Sinti*zze eine ganze Bandbreite polizeilicher Mittel: Stadtverweise, gesundheitspolizeiliche Ge- und Verbote, strafrechtliche Regelungen wie etwa die Ahndung von Landstreicherei oder das Untersagen des Reisens „in Horden“. Zu diesem Zeitpunkt lebten aber die meisten Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland bereits sesshaft und waren deutsche Reichsangehörige.

Entzug der Arbeitserlaubnis

Nicht nur, dass viele Rom*nja und Sinti*zze durch alltägliche Diskriminierungen und Ausgrenzung zur Mobilität gezwungen wurden – ihre Freizügigkeit wurde ihnen gezielt durch staatliche Maßnahmen erschwert.

Eine gravierende Beschränkung individueller Freiheit und die Vernichtung der Existenzgrundlage vieler Familien bestand im Entzug von Wandergewerbescheinen: Aufgrund ihrer teils erzwungenen Mobilität übten viele Rom*nja und Sinti*zze fahrende Gewerbe – etwa das des Schaustell-, Musik-, Schmiede- oder Pferdehandelgewerbes – aus. Für diese Arbeiten war ein Wandergewerbeschein erforderlich. Da Rom*nja und Sinti*zze als verdächtig galten und ihnen unterstellt wurde, dass die entsprechenden Gewerbe „allein mit dem Hintergedanken ergriffen wurden, die Behörden über den wahren Grund für das unerlaubte Unterwegssein zu täuschen“, sollten sie in der Ausübung beschränkt werden. 9Kienitz, Sabine (1995): Hausiererinnen. Einblicke in mobile Lebensformen Anfang des 19. Jahrhunderts. In: L’Homme, Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft Nr. 6 Band 1, S. 6-22, hier S. 7. So legte etwa die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich von 1896 fest, dass „[Z*]n […] der Wandergewerbeschein stets zu versagen“ sei. 10Bekanntmachung, betreffend Ausführungsbestimmungen zur Gewerbeordnung, 27. November 1896, in: Deutsches Reichsgesetzblatt Bd. 1896, Nr. 38, S. 745-760. Diese Form der Diskriminierung wurde bis in die Zeit des Nationalsozialismus angewendet. Noch 1936 forderte der Präsident des sächsischen Landeskriminalamtes einen „größeren Gebrauch“ von „Versagensgründen“ bei Anträgen auf Wandergewerbescheine. 11„Gewerbepolizeiliche Überwachung von [Z*]n“ vom 24. September 1936, in: StADD: 2. 3. 27-8, Bl. 35 r.

Diskriminierung durch (sächsische) Polizeibehörden

Die Durchsetzung vieler diskriminierender Maßnahmen lag im Kompetenz- und Zuständigkeitsbereich der Polizei. Da sich Rom*nja und Sinti*zze nicht in ihrem Erscheinungsbild, sondern lediglich in ihrer „fahrenden“ Lebensweise von der Bevölkerungsmehrheit unterschieden, war das einzige Merkmal der polizeilichen Identifikation deren „entwurzeltes und heimatloses Umherziehen“. Rassische Kriterien zur Identifikation fehlten noch weitgehend. Stattdessen waren soziale Gesichtspunkte handlungsleitend: Die Polizei verallgemeinerte alles sich abseits der Norm Bewegende – dazu zählten auch Landstreichende, andere mobil lebende Minderheiten oder sogenannte Landfahrer*innen – zur Gruppe der „[Z*] oder nach [Z*]art umherziehende Personen“. Im „[Z*]begriff“ dieser Zeit ist demnach vor allem ein „Ordnungsbegriff der Polizei“ zu erkennen, der von der „übertriebene[n] Aufmerksamkeit der Polizei für ‚Umherzieher‘ im allgemeinen und ,[Z*]‘ im besonderen“ gekennzeichnet war“. 12Vgl. Lucassen, Leo (1996): [Z*]. Die Geschichte eines polizeilichen Ordnungsbegriffes in Deutschland 1700- 1945. Köln: Böhlau, S. 216.In der polizeilichen Praxis beschränkte man sich oft darauf, Rom*nja und Sinti*zze und auch andere fahrende Gruppen aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich abzuschieben oder fernzuhalten. Das sächsische Innenministerium glaubte 1908 „in verschiedenen Teilen des Landes eine [Z*]plage“ zu bemerken und veranlasste die Polizei daher „[Z*]banden dauernd unter polizeiliche Überwachung zu stellen“. 13Verordnung des Innenministeriums vom 5. Februar 1908, zit. nach Bonillo, Marion (2001): „[Z*]politik“ im Deutschen Kaiserreich 1871-1918. Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 255. Indem die Polizei Repression ausübte, verstärkte sie die erzwungene Mobilität und Außenseiterposition von Rom*nja und Sinti*zze zusätzlich. 1911 zog das sächsische Innenministerium eine vorläufige Bilanz: Es könne „zur Zeit von einer [Z*]plage innerhalb Sachsens nicht mehr geredet werden“. 14Der sächsische Innenminister am 15. Dezember 1911, zit. n. Bonillo, „[Z*]politik“, S. 186. Diese „für Sachsen günstige Lage“ war das Ergebnis der diskriminierenden Politik und der Repression durch die Polizeibehörden.

Obwohl die Zahl der Rom*nja und Sinti*zze im Deutschen Reich verschwindend gering war, gab es gleichzeitig umfangreiche Maßnahmen, die auf die Identifikation, Erfassung und Kontrolle der Minderheit abzielten. Eine wichtige Rolle bei der Erfassung der Rom*nja und Sinti*zze in Sachsen spielte die Polizeidirektion Dresden.

Die nachrichtendienstliche Erfassung

Zur eigentlichen Zentrale der Erfassung entwickelte sich aber die in der Kaiserzeit gegründete „Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei in Bezug auf [Z*]“ zur „Bekämpfung der [Z*]plage“ in München. Zwischen 1899 und 1938 sammelte die sogenannte „[Z*]zentrale“ in 17.000 Akten die persönlichen Daten von rund 30.900 Personen. Nicht nur, dass Rom*nja und Sinti*zze dadurch mit Straftäter:innen und Kriminellen gleichgesetzt wurden; die gesammelten Daten lieferten eine Grundlage für die spätere nationalsozialistische Verfolgung.

In der Weimarer Republik waren die individuellen Freiheitsrechte zwar durch eine demokratische Verfassung geschützt waren, erfuhren Rom*nja und Sinti*zze weiterhin Diskriminierung und Ausgrenzung. Die meisten von ihnen waren zwar inzwischen deutsche Staatsbürger:innen, dennoch waren sie von zahlreichen Sondergesetzen und -regelungen betroffen. Etwa wurde im Jahr 1926 das bayrische Gesetz zur „Bekämpfung von [Z*]n, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ erlassen. Sachsen hatte zwar kein vergleichbares Gesetz, wünschte aber ebenfalls schärfere Maßnahmen gegen Sinti*zze und Romn*ja. Das sächsische Landeskriminalamt problematisierte dabei immer wieder die „Ruhe und Ordnung gefährdenden Rassegewohnheiten“ der Sinti*zze und Romn*ja, wobei es insbesondere das „Auftreten in Banden, primitive Bildungsstufe, Neigung zur gewohnheitsmäßigen Begehung von Straftaten“ hervorhob. 15Das sächsische Ministerium des Inneren am 1. Februar 1924, in: StA-D, Maßnahmen zur Bekämpfung des [Z*]unwesens, 11350/ 203, Bl. 67 r. Diese oder ähnliche Behauptungen ignorierten, dass sich viele Rom*nja und Sinti*zze nicht als „[Z*]“, sondern als Deutsche identifizierten und seit Jahrzehnten sesshaft lebten. Viele von ihnen hatten die katholische Konfession. Im ersten Weltkrieg dienten viele Rom*nja und Sinti*zze im deutschen Heer.

Der Nationalsozialismus: Verfolgung durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Behörden

Die Nationalsozialisten konnten 1933 umstandslos an solche Argumentationen sowie an die lange Tradition der Ausgrenzung von Rom*nja und Sinti*zze anknüpfen. Das Reichsinnenministerium erklärte Rom*nja und Sinti*zze in Folge der „Nürnberger Rassegesetze“ 1936 zu einer „artfremden und minderwertigen Rasse“ in Europa. Im selben Jahr wurde die „Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle“ (RHF) unter Leitung Robert Ritters gegründet. Gemeinsam mit der Münchener „[Z*]zentrale“, die die Nationalsozialist*innen nach Berlin verlegten, organisierte die RHF die Erfassung von Sinti*zze und Romn*ja und deren Deportation. Ritter‘s Forschungsstelle hatte die Aufgabe, alle im Deutschen Reich lebenden Rom*nja und Sinti*zze zu erfassen und nach rassistischen Kriterien einzustufen. Diese Art der Erfassung war allerdings nur möglich, weil kommunale Standes-, Sozial- und Arbeitsämter, lokale Polizeistellen, Gesundheitsämter und Rasseforscher*innen sich gegenseitig zuarbeiteten.

Die aktive Rolle der Wissenschaft bei der Verfolgung

Ein Beispiel für einen etablierten Forscher, der den nationalsozialistischen Behörden direkt zuarbeitete, war der Leiter und Professor des Ethnologischen Instituts der Universität Leipzig Otto Reche. Von seinem „Institut aus“ wollte Otto Reche für das Rassenpolitischen Amt der NSDAP im Jahr 1934 alle „in Sachsen lebenden Bastarde mit anderen Rassen“ erfassen und schlug dabei vor „zunächst mit den in Leipzig vorhandenen zu beginnen“. 16Otto Reche an das Leipziger Polizeipräsidium am 8. März 1934, in: Sta-L 20031, PP-V 4935. Das hatte zum Ziel, die Menschen in „einer Kartei zu sammeln“, damit „wir genau wissen, was an solchen Leuten in Stadt und Kreis Leipzig herumläuft und unter Umständen mal einschreiten [zu] können, um Unheil zu verhüten“. 17Otto Reche, zit. nach Geisenhainer, Katja (2002): „Rasse ist Schicksal“. Otto Reche (1879-1966). Ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 295. Später ordnete das Rassenpolitische Amt Sachsen die sogenannte „Fremdrassigen-Erhebung“ auf Kreisebene an. Reche beteiligte sich daran mit einer Liste über die „im Stadtgebiet wohnenden [Z*] nach dem Stande vom 15. Juni 1936“.

Diese Erhebungen Reches und des Rassenpolitischen Amtes sind auch deshalb nennenswert, weil sie die Grundlage für die spätere Erfassung der Leipziger Rom*nja und Sinti*zze durch die Rassenhygienische Forschungsstelle legten. Rund 60 Leipziger Rom*nja und Sinti*zze wurden im Juni 1940 durch die RHF „rassebiologisch begutachtet“. Bei der Begutachtung und Vermessung von Rom*nja und Sinti*zze bediente sich die RHF pseudowissenschaftlicher Methoden. Es wurden Haut-, Haar- und Augenfarben bestimmt, Hand- und Fingerabdrücke vermessen. Auch die Breite der Augenbrauen, die Größe der Ohrläppchen oder die Stirnhaarbegrenzung sollten Aufschluss über allgemeine „Rassemerkmale“ der Rom*nja und Sinti*zze geben. Einen Nachweis dafür konnte die RHF jedoch nicht erbringen. Die RHF behauptete darüber hinaus – ohne irgendeinen wissenschaftlichen Beweis dafür zu liefern – dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Rom*nja und Sinti*zze genetisch zu „Asozialität“ veranlagte „Mischlinge“ seien. Diese Behauptung war folgenreich, denn im Nationalsozialismus wurde die fatale Meinung verbreitet, für die Gesundheit der „Volksgemeinschaft“ seien „Mischlinge“ besonders schädlich. Durch die Vermischung der „Rassen“ würden sich „Asozialität“ und Kriminalität – als angeblich genetische Eigenschaften – vererben. Der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP in Sachsen, Joachim Römer, glaubte etwa zu wissen, dass sich bereits „tausende asoziale, haltlose Menschen“ mit den Rom*nja und Sinti*zze „vermischt“ hätten, was die Verbreitung von „Asozialität“ befördert hätte. Die Gesundheit des deutschen „Volkskörpers“ sei deshalb bereits nachhaltig beschädigt. Die vermeintlich wissenschaftliche Gleichsetzung von „Rassevermischung“ und „Asozialität“ war es, die die seit Jahrhunderten überlieferten Vorurteile über Sinti:zze und Romn:ja anschlussfähig an die NS-Rassenpolitik machte.

Schließlich kam der Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle Robert Ritter zu dem Schluss, dass „die [Z*]frage […] nur dann als gelöst werden kann, wenn das Gros der asozialen und nichtsnutzen [Z*]-Mischlinge in großen Wanderarbeitslagern gesammelt und zur Arbeit angehalten wird und wenn die Fortpflanzung dieser Mischlingspopulation endgültig unterbunden wird“. 18Robert Ritter, zit. nach Bastian, Till (2001): Sinti und Roma im Dritten Reich. Geschichte einer Verfolgung. München: Beck, S. 39. Faktisch bedeutete das die Zwangssterilisation, Deportation und Ermordung vieler zehntausend Rom*nja und Sinti*zze in NS-Konzentrationslagern.

Zwangssterilisierung

Das Konstrukt des „Mischlings“ und die vermeintliche „rassische“ Andersartigkeit „des [Z*]s“ gaben vielen lokalen Gesundheitsämtern und sogenannten „Erbgesundheitsgerichten“ die Möglichkeit, systematisch gegen Sinti*zze und Romn*ja vorzugehen. Die gesetzliche Basis dazu lieferte das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933. Es diente der „Unfruchtbarmachung“ von angeblich körperlich oder geistig „Erbkranken“ und von Alkoholkranken. Tausende Rom*nja und Sinti*zze wurden mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ einer erzwungenen Sterilisation zugeführt und dabei erpresst: entweder Sterilisation oder KZ. Im Vergleich zu anderen Gruppen lag die Anzahl der zwangssterilisierten Rom*nja und Sinti*zze deutlich höher. Etwa 5000 Menschen starben an den Folgen des Eingriffes.

Es folgte eine Reihe von staatlichen Erlassen, die einerseits tradierte Ausgrenzungspraktiken aufgriffen. Andererseits signalisierten sie auch die Radikalisierung und Systematisierung der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Der 1937 in Kraft getretene sogenannte „Asozialenerlass“ ermächtigte die Polizei, Sinti*zze und Romn*ja in ein Konzentrationslager einzuweisen.

Die Aufhebung der Freizügigkeit

Der „Runderlass zur Bekämpfung der [Z*]plage“ von 1938 zielte auf „die rassische Absonderung des [Z*]tums vom deutschen Volkstum“ und die „Verhinderung der Rassenvermischung“. Ein Jahr später wurde die Freizügigkeit von Rom*nja und Sinti*zze durch den sogenannten „Festsetzungserlass“ aufgehoben. Sämtliche dieser Erlasse sind als systematische Vorbereitung zur Deportation der Rom*nja und Sinti*zze in die Konzentrationslager zu verstehen. Das bedeutete jedoch nicht, dass lokale Behörden die nationalsozialistische Order lediglich ausführten. Beispielsweise wurden bedürftige Rom*nja und Sinti*zze in Leipzig 1936 von Fürsorgeleistungen ausgeschlossen. Ein Beamter des Leipziger Gesundheitsamtes schlug 1937 ein „allgemeines Vermietungsverbot“ vor, damit „wir die [Z*] nach und nach aus Deutschland hinausdrängen können“. 19Gesundheitsamt III an die Verwaltung des Fürsorgeamtes am 19. Februar 1937, in: StadtAL, AFSA 2104, Bl. 16 r. Die Leipziger Kriminalpolizei plante im Jahr 1939 eigenmächtig die Einweisung einer „asozialen und überaus verwahrlosten [Z*]familie“ in ein Konzentrationslager. 20Staatliche Kriminalpolizeistelle Leipzig am 16. Februar 1939 und 22. November 1939, in: Sta-L 20031, PP-S 2025/73, Bl. 48 r. Dies „scheiterte jedoch zunächst daran, dass noch keine Familienlager für [Z*]mischlinge – die geplant sind – eingerichtet sind, in denen dann auch die zahlreichen Kinder mit aufgenommen werden“. Jedes dieser Beispiele kann als exemplarisch für die „[Z*]politik“ deutscher und sächsischer Kommunen angesehen werden – und jede dieser Maßnahmen nahm nationalsozialistische Direktiven vorweg.

Die Deportationen in Konzentrationslager

Die geschlossene Deportation aller deutschen Rom*nja und Sinti*zze wurde durch den sogenannten „Auschwitzerlass“ von 1942 in die Praxis umgesetzt. 21Als „Auschwitzerlass“ wird die Direktive Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 bezeichnet, mit dem die Deportation der innerhalb des Deutschen Reichs lebenden Rom*nja und Sinti*zze angeordnet wurde. Ziel dieses Erlasses war die kollektive Deportation und Vernichtung der Rom*nja und Sinti*zze. Er bildete die Grundlage für die Deportation von rund 23.000 Rom*nja und Sinti*zze in das sogenannte „[Z*]lager“ in Auschwitz-Birkenau. Dazu gab es keinen nennenswerten Widerspruch seitens der Bevölkerungsmehrheit. Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde das sogenannte „[Z*]lager“ eingerichtet. Unter den ersten Deportierten befanden sich Rom*nja und Sinti*zze aus Leipzig und Dresden. Von den rund 22.600 Inhaftierten der Angehörigen der Minderheit in Auschwitz – unter ihnen zahlreiche Kinder – starben mehr als 13.000 Menschen an Krankheiten, Seuchen und Mangelernährung. Mehr als 5.600 Rom*nja und Sinti*zze wurden in den Gaskammern ermordet. Insgesamt fielen in Europa dem nationalsozialistischen Genozid rund 500.000 Sinti*zze und Romn*ja zum Opfer.