Familie Winter, Große Fleischergasse 10 in Leipzig

Das Polizeipräsidium Leipzig legte in den Jahren 1908 bis 1940 Akten über mindestens 50 Roma und Sinti an. Diese Akten aus der Zeit des Kaiserreichs, aus der Weimarer Republik und aus der Zeit des Nationalsozialismus gleichen sich nahezu vollständig. Die Straftabellen sind leer. Trotzdem wurden sie registriert, erkennungsdienstlich behandelt und fotografiert. In der Kategorie der Verbrecher-Klasse steht allein: [Z*]. Unter den Registrierten befand sich auch Dora Winter, geboren am 22. April 1913 in Gleiwitz (heute Gliwice, Polen), die unbescholten ist und gegen die nichts vorliegt.

Dora Winter lebt zusammen mit Willi „Gorka“ Kanzler und ihren Kindern:

  • Josef „Heini“ Winter, geboren am 22. März 1929 in Gelsenkirchen
  • Peter Franz, geboren am 11. oder am 21. November 1932 oder 1933 in Wesenberg (Mecklenburg)
  • Helga „Hela“ Winter, geboren am 18. Oktober 1934 in Teterow (Mecklenburg)
  • Siegfried Winter, geboren am 23. Mai 1937 in Teterow (Mecklenburg)

Im Januar 1938 kommt die Familie Winter nach Leipzig, wo am 27. März 1940 Nelson „Lille“ Winter geboren wird.

In Leipzig leben bereits seit den frühen 1930er Jahren Doras Brüder Adolf „Tschufo“ Winter und Josef „Lille“ Winter mit ihren Familien. Im Oktober 1934 findet sich ein Vermerk in der Polizeiakte Adolf „Tschufo“ Winters, der einen Blick auf die tatsächliche Realität des oft freundschaftlichen und gutnachbarlichen Miteinanders von Roma und Sinti und anderen Leipziger*innen eröffnet: „[Es] haben sich sogar verschiedene Familien mit den [Z*] angefreundet und besuchen sich gegenseitig.“ Im Jahre 1936 ist Adolf Winter in der Mecklenburg Straße in Leipzig-Möckern und ab 1940 in der Großen Fleischergasse 10 in Leipzig gemeldet.

Alle derzeit bekannten 14 Mitglieder der Familie Winter werden im März 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Das weitere Schicksal von Dora Winter, Willi „Gorki“ Kanzler und ihrer fünf Kinder ist unbekannt. Allein ihre Ankunft im Lager ist verzeichnet, danach verliert sich ihre Spur.

Adolf „Tschufo“ Winter starb zu einem unbekannten Zeitpunkt im Jahre 1943. Seine Frau Mimi Gerste, geboren am 9. Januar 1909 in Sieker bei Bielefeld, starb am 8. September 1943. Ihr Sohn Hans „Junge“ Winter, geboren am 1. März 1930 in Bielefeld, starb am 19. eines unbekannten Monats des Jahres 1944. Ihre weiteren Kinder Sigmund „Lehmann“ Winter, geboren am 6. August 1933 in Schildau/Torgau, und Marita „Margitta“ Winter, geboren am 10. November 1936 in Nordhausen, sterben zu unbekannten Zeitpunkten.

Das weitere Schicksal der Frau Josef „Lille“ Winters, Maria Bortja „Paprika“ Laubinger, geboren am 7. Oktober 1905 in Ampfurth/Helmstedt, ist ebenso unbekannt wie das ihrer gemeinsamen Tochter Hanni Laubinger, geboren am 8. Januar 1930 in Greppin.

Gesichert ist allein das Überleben von Josef „Lille“ Winter. Vom Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wird er in die KZs Buchenwald und Mittelbau/Dora deportiert. Danach verliert sich seine Spur. Es ist unbekannt, wann und wo er befreit wird. Dass er überlebt hat, ist jedoch belegt: Am 10. Mai 1946 wird ihm in Leipzig ein neuer Führerschein ausgestellt. Über seinen weiteren Lebensweg ist bislang nichts bekannt.